Halle, 29.XII.1889.
Hochverehrter Herr Professor!
Zum neuen Jahr meine innigsten Wünsche für Ihr Glück und Wohlergehen, so wie das Ihrer Lieben! Und beste Wünsche für das Gedeihen und die Vollendung der großen Schöpfung, an welcher die Kraft Ihres Geistes seit Jahren wirkt und von welcher die wahre, wissenschaftliche Philosophie so mächtige Förderung, ja ihre rechte und dauernde Fundierung zu gewärtigen hat. Es war mir eine unaussprechliche Freude in Ihrer neuen Schrift das Werk in nahe Aussicht gestellt zu finden, und dies, um aufrichtig zu sein, nicht bloß wegen der erwarteten Förderung unserer Wissenschaft, sondern nicht minder wegen der frohen Hoffnung, in meiner eigenen Erkenntnis wesentlich gefördert zu werden. So werde ich wieder das hohe Glück empfinden, das ich so dankbar genoss, da ich noch zu Ihren Füßen saß: geklärt zu werden durch Ihre Klarheit; teilzunehmen an den Gedanken, Entwürfen und Erfolgen Ihres immer weiter dringenden Geistes.
Solches reine Glück gewährte mir auch die Lektüre Ihrer letzten Schrift “Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis”; die grundlegenden Gedanken zur Ethik, die der Vortrag selbst enthält, waren mir aus Ihren Vorlesungen bekannt; und doch, welch ein Genuss für mich, diese bedeutsamen, ja Epoche machenden Gedanken in knapper, scharfer und wahrhaft vollendeter Form von Neuem zu empfangen! Dann die Anmerkungen. So mancher Jurist mochte sie leicht missen, manchem Philosophen mochten sie fatal sein. (Ich meine hier natürlich die größeren, die Logik betreffenden Zusätze.) Mich erfüllten sie, wegen der großartigen dialektischen Kraft, der höchsten kritischen Schärfe, der sorghaften Klarheit und des vornehmen Tones mit aufrichtiger Bewunderung.
Sie haben mir durch die Übersendung dieser Schrift eine große Freude bereitet. Vom Herzen Dank hierfür. Es hat mir wohlgetan, dass Sie meiner so freundlich gedenken. Dass ich den lebhaft empfundenen Dank erst heute ausspreche, werden Sie mir gewiss verzeihen, wenn Sie hören, dass ich mich im letzten Jahr, vorzugsweise im Sommer, sehr schlecht befand. Ich war so nervenleidend, dass ich zu Nichts taugte und kaum die notdürftigste Vorbereitung für meine Vorlesungen leisten konnte. In den Ferien war ich im Hochgebirge (Tweng, in den Radstädter Tauern), wo ich mich allmählich erholte. Die schweren physischen Begleiterscheinungen, als Migräne, Schwächezustände etc., verloren sich und wesentlich gekräftigt kehrte ich zurück. In den letzten beiden Monaten ist mein Befinden sich steigernd ein gutes und ich fühle mich nun ganz gesund.
Mit frischen Kräften habe ich mich wiederum den philosophischen Untersuchungen zur Philosophie der Mathematik zugewendet, die ich bereits in Wien begonnen hatte, freilich ohne mir damals auch nur entfernt über die Schwierigkeit des Unternehmens klar zu sein. Der Himmel wird es mir, so hoffe ich, vergönnen, das Werk in diesem Winter zu vollenden und damit eine tatsächliche und empfindliche Lücke der Wissenschaft auszufüllen. Dass ich mich so gut wie gar nicht auf brauchbare Voruntersuchungen stützen konnte (von einigen wesentlichen Anregungen in Ihren Vorlesungen des WS 1885/86 abgesehen), ist wohl der Hauptgrund dafür, dass ich nur mühsam und langsam vorwärtskomme. Große Schwierigkeiten machte mir das volle Verständnis des logischen Charakters des Zeichensystems der arithmetica universalis mit ihren negativen und imaginären, rationalen und irrationalen Zahlen. Die Sache ist nicht so einfach, dass mit dem Anzahlbegriff und der Lehre vom uneigentlichen Vorstellen alles getan wäre.
Momentan bin ich dabei, meine ersten Versuche aus dem Jahr 1886, die Grundlagen der Geometrie und überhaupt die allgemeine Kontinuitätslehre betreffend, von Neuem zu durchdenken. Ich blieb damals stecken, weil es mir an dem wahren Verständnis der allgemeinen Arithmetik gebrach; nun ich in dieser zur Klarheit gelangt bin, hoffe ich auch in der Kontinuitätslehre den letzten Rest von Unklarheit zu bemeistern.
Ich habe durch mein bisheriges Verhalten bewiesen, dass mich der Ehrgeiz, meinen Namen möglichst bald und oft gedruckt zu sehen, nicht zu voreiligen Publikationen treibt. Ihres Beifalls bin ich hier sicher. Ich werde nur veröffentlichen, was ich für wirklich nützlich halte, sei es nach der positiven oder kritischen Seite. Selbstkritik ist freilich eine schwere Sache. Hoffentlich wird sie mich gerade bei diesem Werke, das mit Ihrem Namen, mein hochverehrter Lehrer, geziert sein soll, nicht allzusehr täuschen. Nun, ich rede schon, als läge das Buch ganz oder nahezu fertig vor mir – und ist doch noch so viel daran zu schaffen und zu gestalten. Doch ich will nicht verzagen. Ich denke: nicht umsonst habe ich “an Ihrer Sphäre lang gesogen” –
Der Abgang Stumpfs hat mich ganz unvorbereitet getroffen. Ich verliere an ihm einen verehrten, gütigen und wohlwollenden Freund und das empfinde ich schmerzlich. Sein Nachfolger dürfte wohl Erdmann werden. Bin neugierig, wie sich mein Verhältnis zu ihm gestalten wird, nachdem ich seine große Schrift über die Axiome der Geometrie (1877) ganz ablehne.
Doch nun ist es Zeit zu schließen. Ergebene Empfehlungen bitte ich Sie an Ihre Frau Gemahlin zu übermitteln. Es war mir eine große Freude durch Frau Löning zu hören, dass sie meiner noch in so freundlicher Art gedenkt. Herzliche Grüße und allerbeste Neujahrswünsche auch an Herrn Prof. Marty, der, wie sonst zu dieser Zeit, auch diesmal bei Ihnen weilen dürfte.
Ihnen selbst, mein hochverehrter Lehrer, den erneuten Ausdruck meiner allzeit unveränderten und unveränderlichen Verehrung, Liebe und Dankbarkeit von Ihrem
Edmund Husserl